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Die elterliche Aufsichtspflicht bezweckt die Entwicklung zu einem selbständigen, verantwortungsvollen Handeln. Daher bestimmen sich Art und Umfang der Aufsicht nach Alter, Entwicklungsstand und möglichen Gefahren. vgl. LG Wuppertal, Urteil vom 18.06.2019 - 17 O 31/13 |
Rn. 9-180 | Zitat (LG Wuppertal, Urteil vom 18.06.2019 - 17 O 31/13) ein-/ausblenden "Die elterliche Aufsichtspflicht soll das zu beaufsichtigende Kind davor schützen, sich selbst zu gefährden, durch Dritte gefährdet zu werden und soll zudem verhindern, dass das Kind Dritte gefährdet oder schädigt. Der Umfang der Aufsichtspflicht bestimmt sich dabei nach dem Einzelfall (Münchener Kommentar BGB/Huber, 7. Auflage 2017, § 1631 Rn. 9). Maßgeblich sind insbesondere das Alter, die Einsichtsfähigkeit und das Verantwortungsbewusstsein des Kindes (BGH, NJW 1980, S. 1044; ders., NJW 1984, S. 2574, 2575; Münchener Kommentar BGB/Huber, 7. Auflage 2017, § 1631 Rn. 8; Palandt/Götz, 78. Aufl. 2019, § 1631 Rn. 3). Dabei ist zu berücksichtigen, dass Kinder gemäß § 1626 Abs. 2 S. 1 BGB grundsätzlich zu selbständigem verantwortungsbewussten Handeln erzogen werden sollen. Ihnen ist daher durchaus ein gewisser Freiraum zuzugestehen, um ihnen die Möglichkeit zu geben, Neues zu entdecken und ihnen zu ermöglichen, etwaige Gefahren selbst einzuschätzen (BGH, NJW 1984, S. 2574, 2575)." vgl. LG Wuppertal, Urteil vom 18.06.2019 - 17 O 31/13 (externer Link) | Rn. 9-181 |
Die Aufsichtspflicht über minderjährige Kinder folgt aus der Personensorge nach § 1631 Abs. 1 BGB. vgl. BGH, Urteil vom 15.11.2012 - I ZR 74/12 |
Rn. 9-182 | Zitat (BGH, Urteil vom 15.11.2012 - I ZR 74/12) ein-/ausblenden "2. Die Beklagten waren kraft Gesetzes zur Führung der Aufsicht über ihren damals 13-jährigen und damit minderjährigen Sohn verpflichtet. Eltern haben nach § 1626 Abs. 1 Satz 1 BGB die Pflicht, für das minderjährige Kind zu sorgen. Die elterliche Sorge umfasst nach § 1626 Abs. 1 Satz 2 BGB die Sorge für die Person des Kindes. Die Personensorge umfasst nach § 1631 Abs. 1 BGB insbesondere die Pflicht, das Kind zu beaufsichtigen." vgl. BGH, Urteil vom 15.11.2012 - I ZR 74/12 (externer Link) | Rn. 9-183 |
Die Aufsichtspflichten dienen nicht allein der Vermeidung von Nachteilen oder Schäden des zu Beaufsichtigenden, sondern auch der Verhinderung von Schäden Dritter. vgl. OLG Köln, Urteil vom 23.03.2012 - 6 U 67/11 |
Rn. 9-184 | Zitat (OLG Köln, Urteil vom 23.03.2012 - 6 U 67/11) ein-/ausblenden "Die gesetzlichen Aufsichtspflichten dienen nicht nur dazu, den Minderjährigen vor Schäden zu bewahren, die bei ihm selbst zu seinen eigenen Lasten eintreten können, sondern auch dazu, zu verhindern, dass er in altersbedingter Unachtsamkeit oder Unreife in Rechte Dritter eingreift, die auch ein Volljähriger nicht verletzen dürfte." vgl. OLG Köln, Urteil vom 23.03.2012 - 6 U 67/11 (externer Link) | Rn. 9-185 |
§ 832 BGB greift bzgl. der Beweisregel aber nicht, wenn es sich um Schäden des Aufsichtsbedürftigen handelt. vgl. OLG Frankfurt am Main, Urteil vom 25.01.2018 - 1 U 7/17 |
Rn. 9-186 | Zitat (OLG Frankfurt am Main, Urteil vom 25.01.2018 - 1 U 7/17) ein-/ausblenden "Schäden des Aufsichtsbedürftigen selbst werden nicht durch § 832 erfasst (vgl. BeckOK BGB/Spindler, Stand: 01.02.2017, § 832 Rn. 3; MüKoBGB/Wagner, 7. Aufl. 2017, § 832 Rn 9; Staudinger/Belling, BGB 2012, § 832 Rn. 169 ff.)." vgl. OLG Frankfurt am Main, Urteil vom 25.01.2018 - 1 U 7/17 (externer Link) | Rn. 9-187 |
Aufsichtspflichten bestehen insbesondere in Belehrungen, Anleitungen und Überwachen sowie Kontrollen. vgl. LG Bielefeld, Urteil vom 18.10.2006 - 21 S 166/06 |
Rn. 9-188 | Zitat (LG Bielefeld im Urteil vom 18.10.2006, Az. 21 S 166/06) ein-/ausblenden "Diese Aufsichtspflicht beinhaltet die Verpflichtung, das Kind zu beobachten, zu belehren und aufzuklären, zu leiten und auf sein Verhalten Einfluss zu nehmen (Palandt-Sprau, § 832, Rdnr. 8). Das erforderliche Maß der gebotenen Aufsicht bestimmt sich bei Kindern nach deren Alter, Eigenart und Charakter, nach der Voraussehbarkeit des schädigenden Verhaltens sowie danach, was verständige Eltern nach vernünftigen Anforderungen in der konkreten Situation an erforderlichen und zumutbaren Maßnahmen treffen müssen, um Schädigungen Dritter durch ihre Kinder zu verhindern (Palandt-Sprau, a.a.O.)." vgl. LG Bielefeld im Urteil vom 18.10.2006, Az. 21 S 166/06 (externer Link) | Rn. 9-189 |
Eine bestehende Aufsichtspflicht kann grundsätzlich auch übertragen werden. Dies kann auch konkludent erfolgen. vgl. OLG München, Endurteil vom 12.11.2020 - 1 U 2528/20 |
Rn. 9-190 | Zitat (OLG München, Endurteil vom 12.11.2020 - 1 U 2528/20) ein-/ausblenden | Rn. 9-191 |
Der Umfang der Aufsichtspflicht richtet sich nach dem, was von dem vernünftigen Aufsichtspflichtigen gegenüber dem konkreten Kind abzuverlangen ist bzw. was insoweit an Aufsicht genügt. vgl. BGH, Urteil vom 15.11.2012 - I ZR 74/12 |
Rn. 9-192 | Zitat (BGH, Urteil vom 15.11.2012 - I ZR 74/12) ein-/ausblenden "a) Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs bestimmt sich das Maß der gebotenen Aufsicht nach Alter, Eigenart und Charakter des Kindes sowie danach, was den Aufsichtspflichtigen in ihren jeweiligen Verhältnissen zugemutet werden kann. Entscheidend ist, was verständige Aufsichtspflichtige nach vernünftigen Anforderungen unternehmen müssen, um die Schädigung Dritter durch ein Kind zu verhindern. Dabei kommt es für die Haftung nach § 832 BGB stets darauf an, ob der Aufsichtspflicht nach den besonderen Gegebenheiten des konkreten Falles genügt worden ist (BGH, Urteil vom 24. März 2009 - VI ZR 51/08, NJW 2009, 1952 Rn. 8; Urteil vom 24. März 2009 - VI ZR 199/08, NJW 2009, 1954 Rn. 8; Urteil vom 20. März 2012 - VI ZR 3/11, NJW 2012, 2425 Rn. 16 ff., jeweils mwN). Von diesen Grundsätzen ist auch das Berufungsgericht ausgegangen." vgl. BGH, Urteil vom 15.11.2012 - I ZR 74/12 (externer Link) | Rn. 9-193 |
Die Anforderungen an das Ob und Wie der Ausgestlatung von Aufsichtspflichten richten sich nach der Vorhersehbarkeit eines (ggfls. auch selbst-) schädigenden Verhaltens. vgl. LG Köln, Urteil vom 21.07.2022 - 14 O 152/19 |
Rn. 9-194 | Zitat (LG Köln, Urteil vom 21.07.2022 - 14 O 152/19) ein-/ausblenden "Die Anforderungen an die Aufsichtspflicht, insbesondere die Pflicht zur Belehrung und Beaufsichtigung von Kindern, richten sich nach der Vorhersehbarkeit des schädigenden Verhaltens. Dabei hängt es hauptsächlich von den Eigenheiten des Kindes und seinem Befolgen von Erziehungsmaßahmen ab, in welchem Umfang allgemeine Belehrungen und Verbote ausreichen oder deren Beachtung auch überwacht werden muss (vgl. BGH, NJW 2009, 1952 Rn. 17; BGH, NJW 2009, 1954 Rn. 14)." vgl. LG Köln, Urteil vom 21.07.2022 - 14 O 152/19 (externer Link) | Rn. 9-195 |
Ein Aufsichtspflichtiger muss auf den Aufsichtsbedürftigen einwirken, damit es keine Drittgefährdungen gibt. Auch wenn nein Züchtigungsverbot besteht, kann eine Maßnahme in Form des Festhaltens (vis absoluta) gerechtfertigt sein, um Angriffe auf Dritte zu verhindern. vgl. AG Augsburg, Urteil vom 04.02.2010 - 15 C 259/09 |
Rn. 9-196 | Zitat (AG Augsburg, Urteil vom 04.02.2010 - 15 C 259/09) ein-/ausblenden "Gerechtfertigt war das Tun der Beklagten aber als Nothilfe (§ 227 BGB). Der Kläger bespritzte mit Absicht andere Kinder durch Springen in matschige Pfützen. Die Beklagte war im Rahmen ihrer Aufsichtspflicht verpflichtet, den Kläger hiervon abzuhalten und das Eigentum der anderen Schüler zu schützen.
Ein weiterer Rechtfertigungsgrund ergibt sich aus der Aufsichtspflicht der Beklagten als Lehrkraft. Seitens der Eltern wird insoweit ein Teil der Personensorge für die Dauer des Schulaufenthalts auf die Schule und deren Lehrkräfte übertragen. Hieraus ergibt sich wiederum eine allgemeine Fürsorge- und Verkehrssicherungspflicht, welche die Lehrkräfte zu erfüllen haben. Diese umfasst Schäden vom Schüler selbst abzuwenden wie auch zu verhindern, dass der betroffene Schüler anderen Schülern Schäden zufügt (vgl. § 37 Volksschulordnung). Dieses Recht umfasst selbstverständlich kein Züchtigungsrecht. Gemäß § 1631 Abs. II BGB ist es für Eltern unzulässig, ihre Kinder körperlich zu bestrafen, ihnen seelische Verletzungen zuzufügen oder andere entwürdigende Maßnahmen. Dies gilt in gleicher Weise für Lehrkräfte. Die Fürsorge- und Aufsichtspflicht der Lehrkraft umfasst abgestellt auf den individuellen Reife- und Erziehungsstand, das Alter des Schülers, der Art der Tätigkeit oder des Unternehmens, der individuellen örtlichen Situation, der Zusammensetzung der Gruppe und der Zumutbarkeit ein Einschreiten durch Belehrungen, Mahnungen, Gebote und Verbote, Überwachung. Es umfasst auch das Recht und die Pflicht zu einem körperlichen Eingreifen, sollte er hierdurch sich selbst gefährden oder andere Kinder gefährden oder schädigen. Für das Gericht steht nach Durchführung der Verhandlung und Beweisaufnahme fest, dass der Kläger an jenem 17.02.2009 nach Schulschluss für Belehrungen und Ermahnungen nicht zugänglich war. Der Kläger war „außer Rand und Band“, er tobte herum, es bestand die Gefahr, dass er den Sicherheitsbereich verlässt, er beschmutzte andere Schüler. Die Beklagte als aufsichtführende Lehrkraft war aufgrund dieses Verhaltens verpflichtet, den Kläger zum Eigenschutz und zum Schutz der anderen Kinder körperlich festzuhalten. Sie war berechtigt, ihn am Oberarm zu packen und in das Bushäuschen zu ziehen. Diese Aktion der Beklagten war angemessen und verhältnismäßig. Dass hierdurch (ungewollte) geringfügige Verletzungen verursacht wurden hat der Kläger hinzunehmen." vgl. AG Augsburg, Urteil vom 04.02.2010 - 15 C 259/09 (externer Link) | Rn. 9-197 |
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